Die Landwirte der Welt ernten so viel wie nie zuvor. Und zwar nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch pro Kopf. Rein rechnerisch könnten 12 bis 14 Milliarden Menschen satt werden und sich gesund ernähren. Doch trotz dieser gewaltigen Lebensmittelmengen kommt bei jedem achten Erdenbürger nicht ausreichend Essen auf den Tisch. Fast 850 Millionen zählt das Heer der Hungernden auf der Welt, eine knappe weitere Milliarde Menschen sind unterernährt.
Die Ursachen für Hunger sind so vielfältig und komplex wie die Stellschrauben, an denen für seine Bekämpfung gedreht werden muss. Es sind miserable Regierungen, Kriege sowie ungerechte Verteilung von Land und Einkommen, die Menschen in Afrika und anderswo daran hindern, Nahrungsmittel zu erwerben oder Vorräte für Dürrezeiten anzulegen. Auch durch Verschwendung gehen Massen von Nahrungsmittel unwiederbringlich verloren: in den Ländern des Westen landet die Hälfte aller Agrarerzeugnisse im Müll; die Länder des Süden erleiden starke Nachernteverluste wegen mangelnder Lager-, Transportund Verarbeitungsmöglichkeiten. Diese Grössenordnung zeigt, wo die wichtigen Reserven liegen. Besonders wir Menschen in den Industrieländern verbrauchen oft sehr viel mehr als uns zusteht.
Das liegt vor allem an unserem grossen Appetit nach Fleisch: zwischen 80 und 124 kg pro Jahr verzehren Deutsche, Franzosen oder Amerikaner. Pro Jahr! Dazu steigt die Nachfrage nach Fleisch auch in vielen aufstrebenden Volkswirtschaften.
Ein Grossteil der Ernte wird dafür an Nutztiere verfüttert. Sofern es dabei nicht um den Aufwuchs von Grünland, sondern um Futtermittel vom Acker geht, geht ein Vielfaches an Kalorien für die direkte Versorgung der Menschen verloren. Neben der Konkurrenz zwischen Futtermittel- und Nahrungsmittelproduktion steigt der Bedarf nach nachwachsenden Rohstoffen zur Energieversorgung. Das führt nicht nur dazu, dass weniger Fläche zur Nahrungsmittelerzeugung vorhanden ist, sondern treibt auch die Preise in die Höhe. Allein zwischen 2003 und 2007 erhöhte der Abfluss von Nahrungsmitteln zur Produktion von Biokraftstoffen die Nahrungsmittelpreise um rund 30%.
Wir müssen noch mehr produzieren...
Da die Anbauflächen kaum vermehrbar sind, müssen die Flächenerträge gesteigert werden. Diese so logisch erscheinende Überlegung führt zur Schlussfolgerung der Agrarindustrie: Die Landwirtschaft muss produktiver werden. Dazu braucht es Düngemittel und Pestizide und gentechnisch massgeschneiderte Pflanzen. Das klingt zwar einleuchtend, ist aber falsch. Denn kein noch so produktives System agrarischer Erzeugung könnte auf dieser Erde leisten, was nötig wäre, damit alle Menschen unseren westlichen Lebensstil leben.
So wenig wie mangelnde Produktivität die Hauptursache des Hungers ist, so wenig ist ein System industrieller Landwirtschaft, wie es die Vertreter grosser Saatgut- und Agrarchemiemultis von BASF oder Monsanto im Sinn haben, zukunftsfähig. Denn dass gerade die Menschen auf dem Land durch extreme Armut am meisten Mangel leiden, zeigt: eine Landwirtschaft, die nur mit regelmässigen Investitionen in teure Betriebsmittel wie chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel, Dünger, patentiertem Gentech-Saatgut und kostenintensiven Maschinen funktioniert, ist kein Modell. Sie nutzt mehr Ressourcen als zur Verfügung stehen. Und sie trägt erheblich zum Klimawandel bei. Bereits heute gehört die Landwirtschaft zu den wichtigsten Quellen menschengemachter Klimagas-Emissionen.
Vor allem durch die Rodung von Wäldern und Umwandlung von Grünland in Ackerland, den Ausstoss von Lachgas aus Mineraldüngung oder Methan durch Wiederkäuer und Reisanbau wird die Lebensmittelproduktion zum Klimakiller. Die globale Erwärmung ihrerseits trägt zur Zerstörung genau derjenigen Ressourcen bei, die zur Versorgung einer wachsenden Weltbevölkerung benötigt werden. Bereits heute gehen jährlich mehr als 10 Millionen Hektar fruchtbarer Boden durch Übernutzung und die Folgen des Klimawandels verloren.
Und gerade die Menschen, die nur wenig Land und keine anderen Einkommensmöglichkeiten haben, spüren Ernteausfälle durch die Folgen des Klimawandels wie Überschwemmungen, Stürme oder Trockenheit besonders dramatisch.
was braucht es, damit nachhaltig alle satt werden?
Die steigenden Kosten für Betriebsmittel zeigen, dass es in Zukunft wenig sinnvoll und vor allem unmöglich sein wird, den mit enormen Energiemengen hergestellten Stickstoff zur Grundlage des Pflanzenanbaus zu machen. Umso mehr, wenn man bedenkt, dass der Teil des künstlich gewonnenen Minerals, der versickert oder als Stickoxide in die Luft aufsteigt, Gewässer verunreinigt und den Treibhauseffekt verstärkt. Ähnlich sieht es mit Phosphat aus, das nicht synthetisiert, sondern aus Lagerstätten gewonnen wird, die in wenigen Jahrzehnten erschöpft sein werden.
Aber auch die Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten, an Nahrungspflanzen, Nutztier-Rassen und Pflanzensorten sind Ressourcen, deren dramatische Verringerung schlimme Folgen mit sich bringt. Auch hier ist eine Landwirtschaft als Verursacher beteiligt, die mit rationalisierten Produktionsverfahren billig grosse Nahrungsmengen erzeugt.
Am weitesten über die Grenzen des nachhaltig Möglichen ist die «Tierproduktion» geraten, die aus Mitgeschöpfen Fabrikgüter für die Massenherstellung macht. Sie verursacht Probleme für Umwelt und Tierschutz und bedroht unsere Gesundheit nicht nur, weil billiges Fleisch zu übermässigem Konsum verführt. In der industriellen Tierhaltung kommen grosse Mengen an Antibiotika zum Einsatz, welche die Entstehung gesundheitsgefährdender antibiotikaresistenter Keime fördern. Zudem funktioniert Agrarindustrie auch im Bereich der Tierproduktion nur auf Pump: auf Millionen von Hektaren einstigen Regenwaldes in Südamerika wachsen Sojabohnen in Monokultur, die als Eiweissfuttermittel in europäischen Viehtrögen landen. Urwald für Schnitzel, sozusagen.
Diese Diagnose führt zu einer unumgänglichen Therapie: Unsere Landwirtschaft muss ökologisch werden und unsere Ernährungsweise auch.
Das Gegenmodell zur Agrarindustrie ist der Ökologische Landbau mit seinem umfangreichen Methodenrepertoire. Durch Ökologische Intensivierung, also der intelligenten Nutzung der Natur bei möglichst geringem Einsatz von zusätzlichen Betriebsmitteln, können Landwirte Ertragssteigerungen erzielen und verbessern damit ihre Einkommenssituation.
Die Grundlage der ökologischen Intensivierung bildet eine Kombination aus modernster wissenschaftlicher Erkenntnis und dem reichen Erfahrungsschatz, der insbesondere in traditionellen Gesellschaften noch erhalten ist. Sie nutzt, erhält und fördert die ungeheure Vielfalt an Pflanzenarten, Sorten und Tierrassen, soweit sie in der industriellen Landwirtschaft noch nicht untergegangen ist.
Beispiele in Haiti oder auf den Philippinen, in Kenia oder Äthiopien zeigen, dass dort, wo heute Menschen Hunger leiden – in den ländlichen Regionen des Südens – Ertragssteigerungen und Einkommenssicherung möglich sind. Und zwar ohne dass die Bauern ihre Einkünfte für den Kauf von Chemikalien aus den Industriestaaten verwenden müssen und ohne dass sie in die Abhängigkeit jener Patente geraten, mit denen die Gentechnikindustrie ihre Saaten versieht. In den letzten Jahren wurden ausreichend Daten erhoben und ausgewertet, um die Effizienz dieses Systems zu belegen. So verwundert es nicht, dass immer mehr Organisationen der Entwicklungshilfe oder der Vereinten Nationen darauf drängen, auf eine ökologische Intensivierung der Landwirtschaft zu setzen und nicht auf eine Industrialisierung nach westlichem Vorbild. In Indien haben sich bereits drei Bundesstaaten auf den Weg zur Vollumstellung ihrer Landwirtschaft gemacht.
Die Zeit ist gekommen, nicht mehr das «ob», sondern das «wie» zu diskutieren.
Wie schaffen wir die transformation zu einer ökologischen Landwirtschaft?
Der Schlüssel dafür liegt in dem, was die Ökonomen «Kosteninternalisierung» nennen. Es muss Schluss damit gemacht werden, dass ein erheblicher Teil der Produktionskosten von der Umwelt gezahlt wird, statt damit den Preis der Produkte zu belasten. Wenn sich Kosten, wie sie durch die Ausschwemmung von Nährstoffen in Gewässer, durch Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt oder dem Bienensterben verursacht werden, im Preis des Schnitzels wiederfinden würden, zöge das eine Reihe von Konsequenzen nach sich: So wäre die Produktion mit den geringsten Allgemeinkosten konkurrenzfähig. Das ist der Ökologische Landbau auch dann, wenn man berücksichtigt, dass er auf vielen Feldern noch weiterentwickelt werden muss, um dem Ziel einer vollkommenen Nachhaltigkeit näherzukommen. Und unser Ernährungsverhalten würde sich ändern – zum Nutzen aller: Denn halb so viel gutes Fleisch zum doppelten Preis erhöht die Lebensmittelausgaben nicht, ist gesünder und bildet einen Beitrag zur Sicherung der Welternährung. Damit die Politik es wagt, Massnahmen zu ergreifen, muss der Bewusstseinswandel bei uns Bürgerinnen und Bürgern, Wählerinnen und Wählern voranschreiten. Die Zeit dafür ist günstig!
Dr. Felix Prinz zu Löwenstein
Dr. Felix Prinz zu Löwenstein ist ein deutscher Agrarwissenschaftler und Landwirt. Er gilt als bedeutender Kritiker der modernen industriellen Landwirtschaft. Felix Prinz zu Löwenstein bekleidet verschiedene Ehrenämter in Organisationen des Ökologischen Landbaus: Vorstandsvorsitzender des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) und Vorstandsmitglied des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL Deutschland).
2011 veröffentlichte er sein Buch ‹Food Crash›, das von Deutschlandradio Kultur als «beeindruckendes und überzeugendes Plädoyer für eine ökologische Landwirtschaft» und von ‹Spektrum der Wissenschaft› als «Plädoyer für ein nachhaltigeres und gerechteres Landwirtschaftssystem» bezeichnet wurde.
2016 erhielt er für sein vielseitiges Engagement im Ökolandbau das Bundesverdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Dr. Felix Prinz zu Löwenstein ist zudem Botschafter des Bodenfruchtbarkeitsfonds.
Textquelle: Magazin Bodenfruchtbarkeitsfonds 02/2019
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